Rückblick aus dem Jahre 2000 by Bellamy Edward

Rückblick aus dem Jahre 2000 by Bellamy Edward

Autor:Bellamy, Edward [Bellamy, Edward]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-12-12T00:00:00+00:00


16. Kapitel – Julian West wird Geschichtsprofessor

Den folgenden Morgen stand ich etwas vor der gewöhnlichen Frühstückszeit auf. Als ich die Treppe hinabging, trat Edith in den Flur; sie kam aus dem Zimmer, das der Schauplatz meines früheren Morgengesprächs mit ihr gewesen war.

»Aha!«, rief sie mit einem bezaubernd schelmischen Ausdruck aus. »Sie dachten wohl, sich wieder heimlich aus dem Staube zu machen, um eine jener einsamen Morgenwanderungen zu unternehmen, die Ihnen so ausgezeichnet bekommen? Aber Sie sehen, dass ich diesmal zu zeitig für Ihren Plan aufgestanden bin. Sie sind ertappt und gefangen.«

»Sie setzen den Erfolg Ihrer eigenen Kur herab«, sagte ich, »wenn Sie meinen, dass solche Morgenwanderungen jetzt noch üble Folgen für mich haben könnten.«

»Es freut mich, das zu hören«, versetzte Edith. »Ich war im Nebenzimmer damit beschäftigt, einen Blumenstrauß für den Frühstückstisch zu ordnen, als ich Sie herabkommen hörte. Aus der Behutsamkeit Ihres Schrittes schloss ich auf ein heimliches Vorhaben.«

»Sie taten mir unrecht«, erwiderte ich. »Ich dachte gar nicht daran auszugehen.«

Trotz Ediths Bemühen, mich glauben zu machen, dass sie mich ganz zufällig abgefasst habe, stieg mir doch ein leiser Verdacht auf. Ich vermutete, dass das holde Mädchen die letzten zwei oder drei Morgen zu ungewöhnlich früher Stunde aufgestanden war, um in treuester Erfüllung des übernommenen Hüteramts jeder Möglichkeit vorzubeugen, dass ich noch einmal einsam die Stadt durchwanderte und von qualvollen Gemütsstimmungen dem Wahnsinn nahegebracht würde. Später wurde mir die Richtigkeit meiner Vermutung bestätigt. Nachdem Edith mir erlaubt hatte, ihr beim Ordnen des Straußes behilflich zu sein, folgte ich ihr in das Zimmer, aus dem sie gekommen war.

»Sind Sie ganz sicher«, so fragte sie mich, »ob nun für immer die schrecklichen Empfindungen vorbei sind, die Sie an dem bewussten Morgen gepeinigt haben?«

»Ich kann nicht verhehlen«, erwiderte ich, »dass mich hie und da höchst seltsame Gefühle befallen. Es gibt Augenblicke, wo mir die Identität meiner Person als eine offene Frage erscheint. Nach allem, was ich erlebt habe, hieße es zu viel verlangen, wollte ich erklären, dass ähnliche Empfindungen gelegentlich nicht wiederkehren. Aber dennoch denke ich, dass mir nie mehr wie an jenem Morgen die Gefahr droht, ganz zusammenzubrechen.«

»Ich werde nie vergessen«, sagte Edith, »wie Sie damals aussahen.«

»Wenn Sie nur mein Leben gerettet hätten«, fuhr ich fort, »so vermöchte ich vielleicht meine Dankbarkeit in Worte zu kleiden. Aber Sie haben mir mehr gerettet: meine Vernunft, und da sind Worte viel zu schwach, um auszudrücken, was ich Ihnen schulde.«

Eine tiefe Bewegung hatte sich meiner bemächtigt, und ich bemerkte, wie Ediths Augen plötzlich feucht wurden.

»Es fällt mir schwer, dies zu glauben«, sagte sie, »aber es ist dennoch angenehm, es von Ihnen zu hören. Was ich tat, war herzlich wenig. Ich weiß nur, dass ich Ihretwegen schmerzlich gelitten habe. Mein Vater meint, dass uns nichts in Erstaunen versetzen dürfe, was sich wissenschaftlich erklären lässt. Das gilt wohl auch für Ihren langen Schlaf. Trotzdem macht mich der bloße Gedanke an Ihre Lage schaudern. Ich weiß, dass ich ein ähnliches Schicksal nie ertragen könnte.«

»Das hinge davon ab«, erwiderte ich, »ob Ihnen ein Engel nahte, der Sie im Augenblick der höchsten Seelennot mit seinem Mitgefühl unterstützte, ein Glück, das mir zuteilgeworden ist.



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